ABC-Etüden

Extraetüde KW 22 / 2022 – Im Unwetter

Diese Woche ist Extra-Etüdenzeit nach dem Motto „Mindestens fünf aus sechs in maximal fünfhundert“.
Die sechs Mai-Worte sind:
Giraffe, mondsüchtig, suchen, Wetterbericht, ordentlich, irisieren.
Die Einladung kam, wie immer von Christiane.
Kombiniert ist das Ganze mit der Idee eines Textrahmens („Sie öffnete die Tür“ … „dann ging sie.“) von Myriade aus ihrer Impulswerkstatt.
Danke an euch beide.

Im Unwetter

Sie öffnete die Tür.
Vor ihr stand eine Giraffe. Um den langen Hals hing ihr ein ordentlich geschnürtes Päckchen.
Das Tier blickte sie aus lang bewimperten, dunklen Augen bittend an: „Verzeihen sie die Störung, mein Name ist Pamela. Ich bin auf der Durchreise. Eben hörte ich im Wetterbericht, dass eine Sturmfront heranzieht. Nun suche ich dringend ein Quartier. Kann ich mich wohl so lange bei ihnen unterstellen? Ihr Haus schien mir hoch genug, damit ich hereinpasse.“
Völlig perplex öffnete sie die Tür ganz und Pamela (Pamela? Echt jetzt?) trabte an ihr vorbei in den hohen Flur ihrer alten Bock-Windmühle, die sie in den letzten zehn Jahren liebevoll restauriert hatte.
„Kann ich ihnen vielleicht etwas anbieten, Pamela? Mein Name ist übrigens Katja.“
„Vielen Dank Katja, wenn sie etwas Wasser für ich hätten, das wäre toll.“
Katja nickte. Sie stand immer noch völlig neben sich. Eine sprechende Giraffe? Auf der Durchreise? Mitten in Deutschland? – Das glaubte ihr kein Mensch. Jeder würde sie ansehen, als sei sie mondsüchtig.
In ihrer Küche angekommen überlegte sie, wie sie das Wasser wohl anbieten könnte. Schließlich nahm sie kurzerhand den Wischeimer, säuberte ihn noch einmal gründlich und füllte ihn mit frischem kalten Wasser.
Inzwischen hatte sich der Himmel tatsächlich komplett verdunkelt. Ab und zu schaffte es dennoch ein Sonnenstrahl durch die dichte Wolkendecke. Wenn er auf das fließende Wasser traf, irisierte jedes Mal ein kleiner Regenbogen unter dem Wasserhahn.
Mit dem Eimer voll Wasser trat Katja zurück in den Flur.
„Oh vielen Dank, das ist wirklich sehr freundlich.“ Pamela hatte inzwischen ihr Päckchen abgelegt und trank nun durstig.
Katja setzte sich auf die unterste Treppenstufe. „Darf ich fragen, wie sie das meinten, sie seien auf der Durchreise?“
Die Giraffe hob den Kopf. „Natürlich. Es ist so, dass ich als Au-pair in Hamburg war. In Hagenbecks Tierpark gab es zwei verwaiste Junggiraffen. Um die hab ich mich gekümmert. Jetzt sind sie groß und ich bin auf dem Weg nach Hause, nach Afrika.“
„Ja, aber wie kommen sie denn heim? Hat ihnen der Zoo keine Heimreisemöglichkeit angeboten?“
„Doch natürlich, aber ich laufe lieber. So eingezwängt in Transportkisten zu reisen, das ist nichts für mich. Ich wandere von Tierpark zu Tierpark bis Frankreich. Ich will noch so viel wie möglich unterwegs sehen. Besonders Türme und Hochhäuser interessieren mich. Wenn ich daheim erzählen kann, dass ich den Eiffelturm besucht habe, dann werde ich berühmt. Na ja, von Marseille werde ich nach Marokko übersetzen, ich kenne da von der letzten Fahrt noch einen netten Kapitän. Ab Marokko ist es nicht mehr so weit bis zu meiner Familie. Ich denke, ein halbes Jahr werde ich insgesamt wohl brauchen.“
Eine Zeitlang herrschte freundliches Schweigen zwischen den beiden, gelegentlich unterbrochen von Pamelas Trinkgeräuschen.
Währenddessen lauschten sie dem abziehenden Gewitter.
Dann …
„Ach sehen sie, Katja, das Unwetter ist schon vorbei. Da kann ich mich wieder auf den Weg machen. Herzlichen Dank noch einmal.“ Während Pamela ihren Rucksack wieder aufnahm, öffnete Katja immer noch verwirrt die Tür. Die Giraffe zwinkerte ihr noch einmal freundlich zu.
Dann ging sie.

— 499 Wörter —

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Nachtrag:
Mein Verhältnis zu Tierparks ist eher zwiespältig.
Aber Tierparks als eine Art Hotel für Tiere auf Wanderschaft, die sich die Welt anschauen wollen? Mmmmh …
Ich sehe schon die Zugvögel in langen Schlangen vor dem Check-In
und die Waschbären
und …

14 Gedanken zu „Extraetüde KW 22 / 2022 – Im Unwetter“

  1. Fantastische Idee. ich mag so skurrill bis putzige Geschichten. Ich bin zwar auch kein Tierpark-Fan aber wenn ich Kind-bedingt mal in einem bin, frage ich dort mal ob jemand Pamela kennt. 😉

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  2. Was für eine süße Idee. Ich habe das Gefühl, dass die Giraffe 🦒 so populär werden könnte wie der Wackelpudding 😉
    Und ein Giraffen-au-pair 🦒, das ist wirklich großartig. Ich hoffe, dass sie unterwegs nur auf nette Menschen trifft.
    Die Einbindung in Myriades Schreibung passt supergut, und das Hamburger Sie beweist, dass sie sich wirklich hier integriert haben muss 😉👍
    Hach, sehr hübsch, echt toll.
    Nachmittagskaffeegrüße ⛅🌳☕🍪🧡🌼

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  3. Haha, eine großartige Idee. Pamela? Ja, der Name passt ja hervorragend und du hast ihr eine richtig sympathische Persönlichkeit gegeben. Dass die beiden einander mit Vornamen und „Sie“ ansprechen, ist eine großartige Lösung für das Problem, wie einander eine Giraffe und ihre Gastgeberin anreden könnten und der Text ist so gut geschrieben, dass man die Geschichte vor Augen hat und es gar nicht besonders merkwürdig findet, dass eine Au-Pair-Giraffe durch die Lande reist.
    Nun weiß ich zwar wie die Giraffe heißt, die Dame mit dem Wassereimer ist für mich aber „die Fledermaus“. Ist das für dich OK?
    Vielen Dank für diesen höchst originellen Beitrag zur Impulswerkstatt!

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