ABC-Etüden

ABC-Etüde KW 42 + 43 / 2021: Parallelen

Diese Geschichte folgt auf die Schreibeinladung von Christiane.
Sie verwendet in den vorgegeben maximal 300 Worten die Wortspende von Puzzleblume, die da lautet:

Biedermeier
flöten
niederträchtig

Ideenauslöser war eine Information, die mich fasziniert hat:
Im 19. Jahrhundert gab es Klavierbauer in jeder größeren Stadt.
Ein Klavier war im Haushalt etwa das, was heute das Auto ist: Wer immer sich eins leisten konnte, hatte eins. In besser situierten Haushalten war es ein Salonflügel, der zur Einrichtung dazu gehörte, andere versuchten zumindest ein „einfaches“ Klavier als Statussymbol zu haben.
Im Jahr 1886 beispielsweise wurden in Deutschland etwa 73.000 Klaviere produziert. Allein in Berlin gab es damals über 200 Klavierbauer. Viele Marken, die wir heute noch kennen, entstanden am Ende des 18. bzw. Beginn des 19. Jahrhunderts, seien es Grotrian, Schimmel, Förster, Bösendorfer, Bechstein oder Steinway.
So weit mein Exkurs in die Geschichte …

Parallelen

Seit Tagen mühte sich Franz Xaver durch die Klavierstücke, die sein Lehrer ihm aufgetragen hatte. Zum Namenstag der Mama würde es wieder eine Hausmusik geben, bis dahin musste er sie fehlerfrei spielen können. Also kämpfte er sich verbissen durch die Kinderszenen von Robert Schumann, der Mama zur Freude, die den Komponisten so sehr verehrte.
Er beneidete seine jüngere Schwester Emilia, die nur das Spielen auf der Blockflöte lernen musste. Dieses Instrument schien doch viel leichter zu beherrschen zu sein. Auf jeden Fall flötete Emilia fröhlich vor sich hin, während er mit seinen kurzen Fingern Mühe hatte, die Akkorde zu greifen.
Aber es half alles nichts.
Der Papa hatte erst gestern Abend wieder erklärt, dankbar dafür zu sein, dass die schrecklichen Kriege endlich vorbei seien, der niederträchtige Napoleon endgültig besiegt wäre.
Er sprach aber auch davon, wie schwierig die Lage nach dem Wiener Kongress sei, wie die „Heilige Allianz“ mit aller Macht versuche, eine Restauration zu erzwingen.
Er bedauerte das Verbot jeder politischen Betätigung und beklagte, wie Metternichs Zensur jede Veröffentlichung beargwöhne, selbst die von Musikstücken.
Deshalb, so der Vater, sei es umso wichtiger, wenigstens in der Familie Sicherheit und Geborgenheit zu finden, sich ein gemütliches, friedliches Heim zu schaffen.
Erst eine Woche zuvor waren neue Möbel im beliebten Stil des Biedermeiers angeschafft worden, um den Salon gemütlicher zu gestalten.
Rückzug in die private Sicherheit sei das Einzige, was derzeit zu tun übrig bliebe, so der Herr Papa.

Wie kommt es nur, dass ich hier so viele Parallelen zum Leben in jener anderen Diktatur entdecke, in der ich aufgewachsen bin?


— 260 Wörter —


6 Gedanken zu „ABC-Etüde KW 42 + 43 / 2021: Parallelen“

  1. No weil die Mechanismen um das Vehikel zu steuern wohin Machthaber es wollten, bis vor Kurzem die gleichen waren in allen repressiven Formen und eventuelle ReFormen hinhaltetaktische Maßnahmen waren. Die aktuelle Steuerungsmethodik leitet sich zwar ebenfalls von jener der propagandistischen ab, ist zwischenzeitlich, in Perioden der vorgeblichen Freiheit, alles nicht gesetzlich Verbotene umsetzen zu dürfen, jedoch weit subtiler geworden.

    Gefällt 1 Person

  2. Ja, und du bist nicht die Einzige, die das bemerkt.
    Ist das nicht immer so, dass man so etwas im Rückblick leichter bemerkt und interpretiert?
    Mag deine Etüde, und das mit dem Klavier wusste ich nicht. Danke! 😁
    Abendgrüße 😁✨🌳🍂🧀👍

    Gefällt 1 Person

    1. Klar, hinterher ist jeder schlauer.
      Es liegt wohl in der Natur, dass man sich einen Rückzugsbereich schafft, der vermeintlich sicher ist und in dem man selbst die Regeln bestimmen kann. Tiere verkriechen sich ja auch, wenn es ihnen schlecht geht.
      Abendgrüße zurück 🍺

      Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..